Die Deutschstunde und die Freuden der Pflicht

„Der Polizeiposten Rugbüll ging auf das erleuchtete Rechteck zu, er achtete nicht auf den Weg, watete einfach durch ein Asternbeet, schob sich am Gartenhaus vorbei, zwängte sich durch feuchte Stauden und Büsche und war schließlich so nah dran, daß er seine Hand ins Licht tauchen konnte […] Jetzt hätte er rufen, jetzt hätte er auch klopfen können, doch nach allem, was ich weiß, tat er nichts von beidem, sondern schleppte, da die Lichtquelle zu hoch lag, einen Gartentisch heran, kletterte auf den Tisch und legte das Gesicht an die Scheibe: so hatte er noch nie Einblick genommen in Vorgänge auf Bleekenwarf“.

In diesen Zeilen fängt Friedrich Lenz zielgenau die Persönlichkeit des Polizeipostens Jens Ole Jepsen auf, die Person welche in dem Roman „Deutschstunde“ ein exemplarisches Beispiel dafür liefern soll welche gesellschaftlichen Normen dafür sorgten, dass der deutsche Nationalsozialismus zwei Jahrzehnte lang effektiv funktionieren konnte. Aus dem höheren Amt des Regimes erhält der Polizeiposten Jepsen den Auftrag dem Maler Max Ludwig Nansen ein Malverbot zu überbringen und dessen Einhaltung persönlich zu überwachen. Die Art in der Lenz den Polizeiposten in dem Zitat oben beschreibt, wie dieser geradewegs durch das Gelände marschiert und ihn nichts von seinem Kurs abhalten kann, repräsentiert bei Lenz den unbedingten Drang Jepsens zur Pflichterfüllung. Das Jepsen hierbei nicht einmal auf den Weg um sich herum zu achten scheint, zeigt uns wie unbedeutend für ihn alles rundherum wir, wenn es um seine Aufgabe, die Pflichterfüllung, geht. Welche extremen Formen diese Einstellung zum Leben haben kann zeigt sich darin, dass der Maler Nansen und der Polizeiposten Jepsen als Kinder miteinander aufgewachsen sind, damals hatte Nansen den Jepsen sogar vor dem Ertrinken gerettet. Doch genau wie der Polizeiposten sich nicht durch das Asternbeet oder dem Gartenhaus von seinem Weg abbringen lässt, so berührt ihn auch seine Beziehung zum Maler Nansen mit Bezug auf seine Pflichterfüllung nicht mehr. Prägend für den Polizeiposten Jepsen ist aber auch nicht lediglich das Erfüllen der Aufgabe welche er als seine Pflicht ansieht. Wir können uns vorstellen, dass es damals wie auch heute, viele Menschen gibt die ihr Bestes tun um ihre jeweiligen Aufgaben auszuführen, dabei aber nicht unbedingt an einen Wert oder eine Bedeutung ihres Tuns glauben. Was im Fall von Jepsen vielleicht noch wichtiger als sein Wille zur Pflichterfüllung ist, ist sein unbedingter Glaube an die Pflicht an sich, die Pflicht als ordnende Instanz welche die Gesellschaft und die Welt zusammenhält. Dieser Glaube geht sogar so weit, dass er seinen ältesten Sohn Klaas, der seine Hand selbst verstümmelt um nicht zurück an die Front zu müssen, aus der Familie ausschließt, ein Urteil welches sogar bis nach dem Krieg anhält.

Nachdem Jepsen sich in dem Auszug an das Licht und dem Haus herangemacht hat, scheint ihm das standardmäßige Vorgehen, das Klopfen oder Rufen, nicht ausreichend zu sein. Das heimliche Spionieren in das Haus des Malers hinein lässt uns erraten, in welchem Grade Jepsen auch von einer psychologischen Besessenheit gekennzeichnet ist. Nach Kriegsende wird Nansens Malverbort wieder aufgehoben, womit für den Polizeiposten Jepsen die Sache eigentlich erledigt sein sollte. Der Glaube, dass die Verfolgung des Malers und die Zerstörung seiner Arbeit immer noch seine Aufgabe sei, will aber nicht von Jepsen lassen. Einerseits scheint die fanatische Verfolgung Nansens eine Personifizierung der Pflichterfüllung zur Folge gehabt zu haben. Andererseits scheint der Polizeiposten Jepsen nicht viel von den neuen Regelungen der Alliierten Besetzungsmacht zu halten. Er behält die niedergeschriebenen Regeln der Diktatur weggeschlossen in seinem Büro. Der Wahn in den Jepsen sich jetzt rein steigert wird auch deutlich durch die Kundgebungen seines „zweiten Gesichts“, durch welches er unter anderem ein Versteck seines jüngsten Sohnes Siggi findet in dem der Sohn verbotene Gemälde des Malers versteckt hat. Der Wahn erreicht seinen Höhepunkt als Jepsen das Versteck, eine alte Mühle, anzündet. Lenz zeigt uns durch die Person des Polizeipostens Jepsen wieso das Nationalsozialistische Regime so gut funktionierte konnte. Denn wohlgemerkt, Jepsen ist kein Nationalsozialist. Ganz im Gegenteil erscheint Jepsen uns als ein äußerst unpolitischer Mensch der sich auch nicht etwa als rassistisch oder antisemitisch entpuppt. Was kennzeichnend ist für Jepsen ist eine Existenz die auf eine Verinnerlichung eines übersteigerten und blinden Pflichtgefühls beruht, sowie ein unbedingter Gehorsam der starken Autorität gegenüber. Ob Hitler oder Kaiser Wilhelm, dieser Mensch hätte ihnen allen gehorcht, aus dem Pflichtgefühl her.

Wenn wir begriffen haben, was Lenz uns durch dieses Hauptgeschehen der Deutschstunde mitteilen will, wenn wir das Logos der Person Jepsen erkannt haben und unser Blick jetzt kritisch nach Spuren der übersteigerten Pflichterfüllung suchen kann, so fangen wir auch an andere Personen der Erzählung in einem anderen Licht zu sehe. Als Albert Camus zwanzig Jahre zuvor seinen Roman „Die Pest“ veröffentlichte beschrieb er wie die Menschen einer Stadt auf verschiedenster Weise mit der Wiederkehr der Pest umgehen, geschichtlich gesehen kann Camus mit der Pest auch die deutschen Besatzer in Frankreich gemeint haben. Bei einer tieferen Meditation über die Deutschstunde, können wir uns fragen ob es sich hier nicht auch, wie bei Camus, um eine Pest handelt, die das Leben der in der Erzählung vorkommenden Personen berührt und auf ihr Schicksal einwirkt. Im Gegensatz zu Jens Ole Jepsen ist seine Frau Gudrun eine Person die wir uns als gläubige Nationalsozialistin vorstellen können, deren Weltbild unter anderem stark vom Rassismus und Antisemitismus geprägt ist. Auch ein Hang zu altehrwürdigen Werten, die in seinem Glauben an die Pflicht auch Jens Ole in gewisser Weiser teilt, ist bei Gudrun Jepsen deutlich ausgeprägt und kommt unter anderem bei der Entdeckung eines Strandbildes des Malers Nansen zum Vorschein auf dem ihre Tochter Hilke etwas entblößt porträtiert ist. Jens Jepsens eigene Empörung über dieses Gemälde können wir eher seiner argwöhnischen Beziehung zum Maler Nansen zuschreiben. Aber wie bei Jens, sowie bei Gudrun, existiert bei beiden eine in dieser Bemerkung totalitäre Weltanschauung die keine Kompromisse kennt und von der beide nicht lassen können. Der Sohn, Siggi Jepsen, der diese Geschehen rundum Rugbüll im Rahmen eines Deutschaufsatzes niederschreibt, kann auch im Nachhinein dem Fanatismus nicht entkommen. Die Hetzjagd seines Vaters auf die Bilder Nanens, welche Siggi oft heimlich in sein Versteck in der Mühle rettet, resultiert in einer immer stärker werdenden Wahnvorstellung die Bilder des Malers vor dem Polizeiposten retten zu müssen. Dieser Wahn macht Siggi schließlich zum Kunstdieb, ein Kunstdieb der sich wegen seinem Motiv aber nicht als einen solchen versteht, genau wie seine Eltern sich nicht als das verstehen konnten was sie eigentlich waren. In einer Anstalt zur Besserung von Jugendlichen bekommt Siggis Klasse die Aufgabe einen Aufsatz über das Thema „Die Freuden der Pflicht“ zu schreiben, was für Siggi zuerst unmöglich erscheint, da es für ihn zu diesem Thema viel zuviel erzählen gibt. Als Strafe, aber auch als Möglichkeit, seinem Aufsatz die Zeit zu widmen die er dafür benötigt, wird Siggi bis zum Abschluss seines Aufsatzes in eine Zelle gesperrt, da die Regel besagt das Deutschaufsätze nun mal geschrieben werden müssen. Ob Siggi letztendlich dem Agieren nach einem Gesetz unterliegt oder dem Gebot zu umgehen vermag, bleibt eine offene Frage, denn obwohl Siggi sich später selbst dazu entschließt weiter in der Zelle zu verbleiben um den Aufsatz nach bestem Können fertig zu schreiben und auch der Inhalt des Aufsatzes deutlich gegen den Zweck des vorgeschriebenen Titels spricht, stellt sich die Frage ob Siggi, wie auch sein Vater vor ihm, nicht auch die Aufgabe die ihm ein anderer gestellt hat wieder nach besten Kräften erfüllt.

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